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Hauptausstellung

Samstag, 25. März 2023–Freitag, 09. Juni 2023

«Lehmkuchen ausbrüten» von Caroline Singeisen

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LITERARISCHE VERORTUNG* DURCH NOEMI SOMALVICO

 

Möchten Sie aus dem Vulkan trinken?

Möchten Sie ein buschiges Ei essen?

Möchten Sie alle Flüssigkeiten Ihres Körpers kurz aber heftig in ein Gefäss loswerden?

Möchten Sie Ihr Haar rund um den Planeten wickeln? 

Möchten Sie an einem Herz lutschen?

Möchten Sie Ihr Gesicht verlieren und ein anderes vom Boden nehmen, wie ein Abziehbild?

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Langenthal im März 2023

Literarische Verortung zur Ausstellung «Lehmkuchen ausbrüten»  von Caroline Singeisen
durch Noemi Somalvico

 

So was ist gefährlich

 

Möchten Sie aus dem Vulkan trinken?

Möchten Sie ein buschiges Ei essen?

Möchten Sie alle Flüssigkeiten Ihres Körpers kurz aber heftig in ein Gefäss loswerden?

Möchten Sie Ihr Haar rund um den Planeten wickeln? 

Möchten Sie an einem Herz lutschen?

Möchten Sie Ihr Gesicht verlieren und ein anderes vom Boden nehmen, wie ein Abziehbild?

Möchten Sie ein kleines, triangulär und hübsch drapiertes Stück Welt fressen?

Möchten Sie im Traum drinbleiben?

Möchten Sie Salzwasser spritzen?

Möchten Sie traurig um ein paar Ecken sehen?

Möchten Sie ins Blaue hinauswarten?

Möchten Sie hinter einem Ohr übernachten?

Möchten Sie später mit mir alles, was mal rot war, in ein Senkloch stopfen?

Möchten Sie eine Laus übermalen? 

Möchten Sie die Vergangenheit einmal quer durch den Raum schleppen?

Möchten Sie mit einem Gespenst schlafen?

Möchten Sie doch noch ein Vogel werden?

Möchten Sie einen Fuss mit einer Socke bekleiden?

Möchten Sie etwas, das Ihnen sehr lieb und teuer ist, mit einer stumpfen Nadel verteidigen?

Möchten Sie das Versteck endlich preisgeben?

Möchten Sie Ihre Ängste durch einen Spitzer drehen?

Möchten Sie hinter einem Pinselstrich verloren gehen?

 

Sagen wir, dass eines der Bilder, die sich hier verteilen über Wände und auf einem Tisch, das eins von ihnen mich gefragt hat. Sagen wir, ich stand davor und es fragte mich, ob ich nicht traurig um ein paar Ecken sehen möchte. Es fragte, ohne, dass sich an ihm etwas rührte. Vielleicht habe ich auch ein bisschen übertrieben und das Bild in ein all zu wohlerzogenes Licht gerückt, wenn ich sagte, es habe höflich gefragt: «Möchten Sie...» Und geschummelt habe ich auch, indem ich vorgab, das Bild habe mich gesiezt. Es war von Anfang an per Du mit mir, nein, näher, wir waren per Ich.

Wir sind hier per Ich, per Uns, per Dunkelheit, per Lust, per Hunger, per Nackt.

Und kein Bild hat gefragt. Oder fragt es, ohne zu fragen? Verbirgt es sich, ohne sich zu verbergen? Zeigt sich, ohne sich zu zeigen, wirft sich hin, ächzt durch eine Vielzahl Jahre, schnaubt, dass das Papier sich wellt, flüstert, stöhnt, ohne ein Geräusch zu machen, keinen Mucks.

 

Liebe Gäste, die Sie heute zum LEHMKUCHEN AUSBRÜTEN gekommen sind, die Sie heute sitzen und stehen, aufgespannt zwischen einer Decke und diesem hellen Holzboden, Gäste aus Sehnen und Blut und Muskeln und Gewebe, zwischen Caroline Singeisens Zellulose, Öl und Wasser.

Im obersten Siebtel unseres Körpers prangen, entschuldigen Sie diese Kurzschulung, die Augen. Unsere Oculusen. Meist treten sie im Double auf. Mit den beiden Doubles verhält es sich nicht viel anders als mit Eisbergen: Nur ein Sechstel des Auges ist sichtbar. Die restlichen fünf Sechstel, für die Sichtbarmachung verantwortlich, sind in der Dunkelheit des Kopfes verborgen. Weiss, klar, gallertartig schwimmt der Teil, den wir nicht sehen in der Orbita. Es sei denn wir nehmen ein Auge raus. Dann haben wir sieben Komma fünf Gramm in der Hand.

So wie dieser Text daherkommt, habe ich den Eindruck, ich stelle mich in die Position, nun ein kleines Exempel mit meinen Eigenaugen zu situieren. Mit diesen Augäpfelchen. Oder gar einen Zaubertrick mit ihren Blicken.

Dass ich zum Beispiel sage, gucken Sie sich dieses Bild an. Nun schliessen Sie die Augen. Als Sie sie wieder öffnen, fehlt dem Bild die Malerei. Aber wie ich das genau bewerkstelligen täte, ist mir unklar und es wäre denkbar ungünstig, weil es mir dann vielleicht im zweiten Schritt nicht mehr gelänge, das ursprüngliche Bild wieder aufs Papier zurück zu hexen. Zudem habe ich einen Vertrag unterschrieben, in dem steht, dass ich Ihnen die Ausstellung so überlasse, wie ich sie vorgefunden habe.

Keine gefährlichen Zaubertricks also, keine Kunststücke. Stattdessen: Die Werke durch die Pupille hineinfallen lassen, auf die Netzhaut, damit sie sich dort in der Netzhautgrube einmal überschlagen, dann zum Sehnervende hin nochmals, Salto, um sich wieder in die entsprechende Welt mit oben, unten, recto, verso zu ordnen. Aber das ist nur der Anfang, dann kommt noch die ganze Sache mit dem Körper.

Dass wir mit dem Magen schauen.

Oder etwas gängiger: Mit dem Herzen.

Vielleicht Sind sie auch schon einmal vor einem Bild gestanden und dann mussten sie einen Stuhl herbeiziehen.

Oder sich beiläufig auf den Boden der Ausstellung legen, während Sie immer noch schauten, während sie immer noch jenes Bild im Blick und zwischen den Lungenflügeln hatten. Es ist ein kleiner Rausch.

Hier nur ein kleines Beispiel dazu, was der Blickrausch mit mir schon angerichtet hat. Manchmal, wenn ich etwas zum ersten Mal sehe und etwas Zeit habe, es genau anzuschauen, werde ich zu einem Teil vom Gesehenen. Auf dem Weg hierher zum Beispiel, im Zug. Fiel eine Frau mir durch die Pupille, überschlug sich und stand aufrecht, schamlos und sehr schön in meinem Gehirn. Ich wäre davor fast bei einer anderen Türe eingestiegen, dann hätte ich Folgendes nur erfinden können: Die Frau hielt sich an einer dieser Haltestangen fest. Plätze hätte es genügend gehabt. Ihr Name war Angelika, aber das tut hier nichts zur Sache. Sie hatte etwas ausgesprochen Leichtsinniges an sich. Ihre Haare waren zu einem lockeren Dutt zusammengebunden, und dort wo die Frisur hätte enden können, begannen sich ein paar Strähnen kurz, aber heftig zu ringeln.

Dem Gepäck und ihrer Kleidung nach war sie im Begriff in eine Grube zu steigen. Etwas auszubuddeln. Nämlich hatte sie eine Schaufel dabei. Ich sass im Zug nach Langenthal und in Burgdorf hatte ich schon eine mittelgrosse Leidenschaft für sie entwickelt. Als sei die nebensächliche Art, wie sie sich an der Stange hielt, die Art wie sie sich vom Zug hin und her schaukeln liess, Alge in einem Fluss, die Zusammenfassung dessen, was ich nun über lange Zeit gesucht hatte. Sie war in Begleitung, das hätte ich beinahe unterschlagen, eine Begleitung, die zu Angelika sagte: «Weisst du es immer noch nicht? Dass es manchmal guttut, sich die eigene Begrenztheit einzugestehen?»

Ich hätte fast geklatscht. Angelika wusste es noch immer nicht, sie lachte ausfüllend. Die geringelten Haare in ihrem Nacken oszillierten. Ihre Zähne kamen zwischen den Lippen zum Vorschein. Diese Zähne waren der einzige Teil ihres Skeletts, den ich von ihr sehen konnte, ohne ihre Haut vom Körper zu ziehen.

Als ihre Nase dann mit ihrem Mund gleichzeitig wieder ernst wurde, war ich bereits ein inniger Teil ihres Lebens geworden.

«Könnten Sie bitte-», sagte auf einmal die Alte, die mir seit Bern gegenüber sass. In meinem Rausch hatte ich tatsächlich vergessen, meine Beine einigermassen ordentlich ins Abteil zu fügen. Angelika hatte jetzt etwas ausgepackt, einen Beutel und aus dem Beutel zog sie ein Ei. Sie isst ein Ei, dachte ich, prellt es an der Zugdecke, löst Splitter um Splitter, scheinbar ohne die Fantasie, das Ei in einem einzigen Dreh aus seiner Schale zu bergen. Zum Glück hab ich mich besonnen, ich wäre beinahe aufgestanden, um mein Ohr dorthin zu legen, wo ihr Unterkiefer auf den Oberkiefer traf und ein Geräusch entstanden sein wird: Ihr Kauen. Unterdessen wusste ich auch, wie ich es bewerkstelligen würde, mich an ihre Ferse zu heften. Ich war im Begriffe mein Leben einige Tage, was sage ich da, Jahre lang links liegen zu lassen.

So was meine ich. So was ist gefährlich.

Sie werden vielleicht denken, dass ich etwas desorientiert sein musste. Dass ich besser daran täte ordentlich für mich zu sorgen, statt im Zug nach Langenthal eine mittelgradig bis schwere Leidenschaft für eine Angelika zu entwickeln.

Aber das stellen mir die Oculusen an. In einem Eins A Verfahren mit dem Rest des Körpers.

Einmal mehr hatte ich Glück, dass die Dörfer so klug angeordnet sind: Vor Langenthal kam Herzogenbuchsee, Angelika stieg aus.

 

Allen Gehirnen, die in diesem Raum und in Ihren Schädeldecken schwimmen, könnte das passieren. Mit Angelikas und mit der Kunst. Es gibt Stühle in Griffweite. Setzen Sie sich. Setzen Sie sich der Gefahr aus, berührt zu werden, setzen Sie Ihre Oculusen ein und dann-

 

Trinken wir aus dem Vulkan.

Wickeln wir unser Haar um den Planeten.

Packen wir unser Gewebe.

Klettern wir hinein mit Blicken und wieder hinaus.

* literarische Annäherung an die Ausstellung durch eine Drittperson, wird jeweils an der Vernissage vorgelesen, kann von den Besuchenden gratis mitgenommen werden.

Zeichnungsspiel Finissage

Vor mir ein Stapel leerer Blätter. Ich schreibe einen Satz auf das erste Papier und gebe es dem Menschen neben mir. Dieser Zeichnet aufgrund meines Satzes ein Bid auf das nächste leere Papier. Dann verschwindet mein Satz zunterst im Stapel. Der Stapel mit der Zeichnung zuoberst wird an den nächsten Menschen in der Runde weitergegeben, der wiederum einen Satz daraus ableitet – sehr viel Spass. DOWNLOAD PDF!

 

Caroline Singeisen

Geboren 1977 in Burgdorf

lebt und arbeitet in Bern

www.caroline-singeisen.ch